von Christine Longère
Einigkeit und Recht und Freiheit wünschte sich August Heinrich Hoffmann von Fallersleben für sein zersplittertes Vaterland. Verfemt und immer wieder des Landes verwiesen, fand der Dichter des Liedes der Deutschen schließlich 1860 Zuflucht auf Schloss Corvey. Fünf Jahre, nachdem Hoffmann dort seinen Dienst als Bibliothekar angetreten hatte, schlossen sich in der Gastwirtschaft „In der Rose“ in Werther 16 Männer zu einer „Sangesbruderschaft“ zusammen. Aus ihren Reihen wählten sie ihren ersten Dirigenten, Heinrich Adler. Es war die Geburtsstunde des Gesangvereins „Liedertafel“. Erster Höhepunkt in der Geschichte des jungen Vereins war die Weihe einer eigenen Fahne am 15. Mai 1873. Ihre poetische Inschrift: „Gesang versüßt uns Lust und Leid – Ihm sei hoher Dank geweiht“.
Die Feierstunde zum Jubiläum 150 Jahre MGV „Liedertafel“ am 20. Juni 2015 im „Haus Werther“ wurde mit einer Komposition von Albert Lortzing eröffnet, die den Geist einer Zeit widerspiegelte, aus dem heraus viele Männerchöre und auch der in Werther entstanden. Wie Hoffmanns „Unpolitische Lieder“, die ganz und gar nicht unpolitisch waren, fanden auch Lortzings „revolutionäre“ Lieder und Chöre regen Widerhall. Die Farben Schwarz-Rot-Gold wurden zum Sinnbild der patriotischen Ideen. Schwarz-Rot-Gold waren auch die Farben der „Liedertafel“ Werther – bis zur Nazizeit.
Es waren mehrere Faktoren, die zur Gründungswelle von Männergesangvereinen im 19. Jahrhundert beitrugen. Eine nicht unwesentliche Rolle spielte dabei die Begeisterung der Romantik für den Liedvortrag und das Volkslied. Gleichzeitig entstanden die Vereine als neue Formen der Geselligkeit. In ihnen organisierte sich das nach Freiheitsrechten, Mitbestimmung und Einheit verlangende Bürgertum. Johann Heinrich Pestalozzi propagierte die Idee der Volksbildung, Beschäftigung mit Kunst und Kultur war nicht mehr länger ein Privileg allein der Adligen und Geistlichen.
Aus dem neuen Nationalbewusstsein und dem pädagogischen Eifer, der bedacht war, die nationalen Schätze zu pflegen, erwuchs eine große bürgerliche Chorbewegung. Anhänger der erstarkenden Sozialdemokratie sammelten sich in Arbeitergesangvereinen. Der Bildungsgedanke breitete sich durch technische Erfindungen wie Rotationspresse, Gasbeleuchtung, Eisenbahn, Telegraph schnell in die neu entstandenen sozialen Schichten aus und erreichte auch die Arbeiter auf dem „platten Land“ – in Werther.
Zu den Männern, von denen in jener Zeit besondere Impulse ausgingen, zählte der Berliner Maurermeister, Musiker, Professor, Musikpädagoge, Dirigent und Direktor der Sing-Akademie zu Berlin Carl Friedrich Zelter, der 1809 die „Berliner Liedertafel“, den ersten reinen Männerchor der deutschen Geschichte, ins Leben rief. Der Name Liedertafel bezeichnete ursprünglich eine Tafelrunde nach dem Vorbild von König Artus, eine Runde von gleichgesinnten Freunden, die „verschieden in Beruf und Stellung, einig waren in idealer Gesinnung, besonders in begeisterter Liebe zum Gesang“. Das Zeltersche Vorbild machte Schule. Heute existieren im deutschsprachigen Raum zahllose Gesangvereine unter dem Namen Liedertafel. Neben der Geselligkeit rückte die Aufführungspraxis mehr und mehr in den Mittelpunkt.
Das 150-jährige Bestehen der „Liedertafel“ Werther nahm Volker Schrewe, Dirigent und Vorsitzender des Gesangvereins, zum Anlass für Nachforschungen. Er stöberte auf dem Dachboden, sichtete alte Bücher, Protokolle, Bilder. Was er herausfand, wirft Schlaglichter auf die Vereinsgeschichte. Nicht von ungefähr waren die Gründerväter der Chorvereinigung Zigarrenarbeiter, war doch das Handwerk der Zigarrenmacher zu jener Zeit ein wesentlicher Faktor im Wirtschaftsleben der Stadt. Bis 1966 wurden in der heutigen Bürgerbegegnungsstätte „Haus Werther“ Zigarren produziert, bis Ende der 1980-er Jahre beherbergte der alte Adelssitz noch einen Zigarrenvertrieb.
14 Jahre nach der Gründung war die Mitgliederzahl der „Liedertafel“ Werther auf 41 angestiegen, man zog in die Wertheraner Schule um und gab sich eine Satzung. Danach hat der Verein den Zweck, „uns im Gesang, Deklamation usw. aufzumuntern und die Bildung und Moralität gegenseitig zu befördern“. Die Satzung vom 1. Juli 1879 stellte allen Arbeitern, die ihre Lehre beendet und sich in der „Moralität“ nichts hatten zu Schulden kommen lassen, die Mitgliedschaft frei. Die Chormitglieder sangen nun unter Lehrer Hugo Müller regelmäßig einmal in der Woche. Ein „Zuspätkommen“ wurde mit 5 Pfennig und eine „ungenügende“ Entschuldigung mit 10 Pfennig Buße belegt. Darüber wurde in Protokollbüchern akribisch Buch geführt.
Über das Repertoire des Chores zu jener Zeit gibt ein Liederbuch Auskunft, das „für das Gesangsfest zu Werther am 22. Juni 1879“ angefertigt wurde. Es enthält die Chorsätze: „Bundeslied“, „Kriegslied gegen die Wälschen“, „Forschen nach Gott“, „Schottischer Bardenchor“, „Wand'rers Nachtgebet“, „Choral“. Ein weiteres großes Sängerfest fand im Juni 1887 auf dem Blotenberg statt. Damit begründete der Verein eine hundert Jahre währende Tradition. Seit dieser Zeit, bis 1987, feierten der Turnverein, der Ballspielverein, der Kriegerverein (heute Kyffhäuser-Kameradschaft) und die „Liedertafel“ im Wechsel das alljährliche Blotenbergfest.
Von einem Sängerfest, das mit dem 25-jährigen Jubiläum der „Liedertafel“ verbunden war, berichtete das Haller Kreisblatt am 1. Juli 1890. Der Vertreter der Stadt hielt, wie es in dem Artikel heißt, „eine kurze kernige Ansprache, welche mit einem Hoch auf den Kaiser endete. Hierauf folgte ein Chorgesang der Vereine und dann der Marsch zum Festplatze. Im Zuge befanden sich noch zwei Begründer der ,Liedertafel', die Zigarrenarbeiter Voß und Menckhoff. Auf dem Blotenberge wurde nun fleißig gesungen . . . Auch hielt der Dirigent der ,Liedertafel', Herr Müller, eine längere Ansprache, aus der wir die Äußerung erwähnen wollen, dass infolge der Gründung von Gesangvereinen die zotigen Lieder immer weniger gesungen würden. Die Mitglieder der Gesangvereine sängen lieber Lieder, welche das Gemüt der Menschen veredeln.“
Aus der Chronik geht hervor, dass es Anfang des 20. Jahrhunderts ein vielfältiges Vereinsleben gab. Ausflüge führten zu befreundeten Chören nach Bad Rothenfelde, Spenge, Borgholzhausen, Dissen und zur Brauerei Felsenkeller nach Herford, regelmäßige Konzerte wurden im Saal des Hotel Rentsch „gefeiert“. Die moderne Technik hielt im Verein Einzug. Am 2. März 1913 wurden „5 Mark 21 Pfennig zur Befüllung des Hektographen“ aus der „Casse“ bewilligt, 1920 wurde ein neuer Hektographie-Apparat für 53,20 Mark angeschafft. Vereinslokal wurde das 1910 gegründete „Restaurant zum Sängerheim Georg Wöhrmann“.
Das 50-jährige Jubiläum der „Liedertafel“ war überschattet vom Kriegsgeschehen. Zigarren spielten zu dieser Zeit immer noch eine große Rolle. Während des Ersten Weltkriegs wurden „die Sangesbrüder, die sich im Felde befanden, regelmäßig mit Liebesgaben von Zigarren aus der Heimat bedacht“. Das Thema, wer wie viele zur Verfügung stellen musste, wurde bei den protokollierten Versammlungen ausführlich behandelt. Anlass für ein großes Sängerfest bot dann im Jahr 1925 der 60. Geburtstag des Vereins, den 20 weitere Vereine beim Gastwirt Drewing mitfeierten.
Hatte sich die Sängerbewegung bereits nach der Reichsgründung 1871 für patriotische Zwecke instrumentalisieren lassen, so ordnete sie sich auch in der Zeit des Nationalsozialismus ohne großen Widerstand den politischen Zielen der NSDAP unter. Schon im Vorfeld der Maifeier des Jahres 1933 beugte sich die „Liedertafel“ Werther dem Geist der Zeit. Da zu befürchten sei, „dass wir mit unseren schwarz-rot-goldenen Vereinsfarben, die wir seit über 60 Jahren geführt haben, Ärgernis erregen könnten, sollten die Fahnenträger ohne Schärpen erscheinen“. Es wurde beschlossen, neue Schärpen anzuschaffen. Im November 1933 wurde in den Protokollbüchern erstmals das Wort „Vorsitzender“ durch das Wort „Führer des Vereins“ ersetzt. Ein Jahr später wurde Dirigent Baumann zu einem „verehrten Führer und Chorleiter“, der den Verein wieder „zu Größe geführt“ habe und „Interesse und Freude am Gesang vermittelt, sodass seine Sängerschar mit Stolz vertrauensvoll auf ihren Führer blickt“.
Auch weiterhin wurde gesungen, gefeiert und große Worte gemacht: „Von Euch, liebe Sangesbrüder, erwarte ich nun auch in diesem Jahr unbedingte Pünktlichkeit, dann können wir auch durch unseren Gesang einen Teil dieses Dankesgefühls an unseren Führer Ad. Hitler abtragen, der uns wieder ein freies und starkes Deutschland geschaffen . . . hat.“
Im Oktober 1939 wurde „nach längerer Aussprache“ der Beschluss gefasst, den „Gesangunterricht vorläufig einzustellen“, dafür aber einmal im Monat eine Versammlung abzuhalten, um den „Zusammenhang im Verein zu halten“. Mit einem „Sieg Heil“ wurde die Versammlung geschlossen. Im Januar 1942 hoffte man noch, „dass es den Sangesbrüdern im Felde gelingen möge, in diesem Jahr den Krieg siegreich zu Ende zu führen . . .“ Auch im Januar 1943 wurde noch vom siegreichen Ende des Krieges gesprochen, ein Jahr später dann nur noch vom „heißersehnten Frieden“.
Nach Kriegsende begrüßte man im Januar 1946 „die Sangesbrüder, die in die Heimat zurückgekehrt waren“, wünschte „den lieben Sängern, die noch in Gefangenschaft sehnsüchtig auf ihre Entlassung in die Heimat warten, alles Gute und baldiges Wiedersehen“ und gedachte der gefallenen Vereinsmitglieder. Bald begannen die regulären Gesangstunden wieder unter der Leitung von Rektor Max Tietz. Nunmehr stand die Mitgliedschaft nicht mehr nur den Zigarrenmachern, sondern allen Berufsgruppen offen. Das große Blotenbergfest des Jahres 1951 stand im Zeichen des 85-jährigen Vereinsjubiläums, das Winterfest und die traditionelle Nikolausfeier wurden wieder aufgenommen. Unter Max Tietz und ab 1954 unter Kantor Kurt Müller veranstaltete der Chor wieder viele Konzerte und wirkte an verschiedenen kulturellen Veranstaltungen in der Stadt Werther mit.
Das 100-jährige Bestehen der „Liedertafel“ im Jahr 1965 wurde mit einer Feierstunde während des Blotenbergfestes begangen. Der Präsident des Sängerbundes Nordrhein-Westfalen, Erich Schumacher, weihte die neue Vereinsfahne mit der Inschrift „Deutsches Lied – Du sollst erklingen“. Während eines Festaktes im Staatstheater zu Kassel erhielt der Chor aus dem Händen des damaligen Bundespräsidenten Heinrich Lübke die „Zelterplakette“, eine Auszeichnung für Chorvereinigungen, die sich in langjährigem Wirken um die Chormusik und das Volkslied und damit um die Förderung des kulturellen Lebens verdient gemacht haben.
Zum Ansehen der „Liedertafel“ trug im Verlauf der letzten Jahrzehnte neben der Einbeziehung moderner Chorliteratur auch das soziale Engagement bei. 1971 gab es 32 Auftritte im Terminplan des Vereins, u.a. ein Konzert zugunsten der „Aktion Sorgenkind“ und ein Konzert gemeinsam mit dem Bielefelder Streichquartett. Kurt Müller initiierte 1976 eine kleine Gesangsgruppe aus aktiven Chormitgliedern, die sich später unter dem Namen „Blotenbergamseln“ etablierte und zum festen Bestandteil des geselligen Vereinslebens wurde. Anlässlich der Rundfunk-Aktion „Deutsche Städte grüßen die USA“ wurde 1977 zusammen mit dem Bielefelder Streichorchester eine Langspielplatte mit Volksliedern und Liedern aus dem Musical „My Fair Lady“ produziert. Der Reinerlös der 500 verkauften Platten in Höhe von 2.702,30 DM ging an die Deutsche Krebshilfe. Deren Schirmherrin, Mildred Scheel, bedankte sich persönlich beim Vorsitzenden Albrecht Heide.
Zur Begegnung mit einem Bundespräsidenten kam es erneut im Oktober 1983, als Carl Carstens über die Hermannsweg wanderte und die Sänger der „Liedertafel“ unter ihrem neuen Dirigenten, dem damals 23-jährigen Musikstudenten Volker Schrewe, ihm ein Ständchen brachten. Schrewe, Dirigent des Wertheraner Chores von 1983 bis 1993 und – nach einer beruflich bedingten Unterbrechung – seit 2007 bis zum heutigen Tag, brachte frischen Wind in das Chorleben und knüpfte internationale Kontakte.
Offenheit für Neues und die Freude daran, ausgefahrene Gleise zu verlassen, trieben Schrewe schon als Student in die Ferne und führten ihn mit dem Fahrrad in den Semesterferien nach Norwegen, Dänemark, Frankreich, Italien. Aus den bei diesen Touren gewonnenen Eindrücken erwuchs der Wunsch, mit Musik Brücken zu bauen über die Grenzen von Nationen hinweg. Aus diesem Bestreben heraus erwuchs eine enge freundschaftliche Beziehung des MGV „Liedertafel“ Werther zum Rundfunk- und Fernsehkinderchor St. Petersburg. Sie wurde gefestigt durch sehr erfolgreiche gemeinsame Auftritte, u.a. in der Bielefelder Oetkerhalle. Im September 1997 reisten die Sänger aus Ostwestfalen zu einem Gegenbesuch nach St. Petersburg. Das in der weltberühmten Smolny-Kathedrale durchgeführte Konzert wurde zu einem Höhepunkt in der bisherigen Vereinsgeschichte.
Besondere Herausforderungen für den MGV waren das Konzert aus Anlass des 1000-jährigen Bestehens der Stadt Werther sowie die Mitwirkung an der Aufführung des Oratoriums „Arminius“ von Max Bruch bei den Feierlichkeiten „2000 Jahre Varusschlacht“ in Detmold im Jahr 2009. Eine erlebnisreiche Chorreise zusammen mit dem Männerchor Concordia aus Bellersen bei Brakel führte 2012 nach Zielona Góra, früher Grünberg in Schlesien. Unvergesslich bleibt für alle Teilnehmer der Auftritt in der größten Kirche der polnischen Stadt vor rund tausend Zuhörern.
Tradition versteht der Männerchor Werther als Verbindung in die Zukunft. In den mehr als 150 Jahren seines Bestehens hat sich der Gesangverein zu einem festen Bestandteil des Kulturlebens in Werther entwickelt. Er zählt heute 250 Mitglieder, darunter 35 aktive Sänger. Wie beliebt der Chor ist, zeigt sich bei den jährlich wiederkehrenden Auftritten zum 1. Mai im Stadtpark Werther, im Altenheim, zum Volkstrauertag, zum Advent in der Ev. Kirche sowie bei Konzerten mit immer neuen Themen und schöner Chorliteratur.
„Singen ist nicht altersabhängig. Erhebe deine Stimme mit Anderen in einem Chor mit vielfältigem Repertoire!“ Mit diesem Appell lädt der MGV auch Jüngere zur Teilnahme an den Probeabenden jeden Mittwoch von 19.15 bis 21 Uhr im „Haus Werther“ ein. Die Wirren wechselnder Zeiten hätten dem Zusammenhalt der Sänger nichts anhaben können, stellte Gastrednerin Hannelore Petschulat beim Festakt zum 150-jährigen Jubiläum der „Liedertafel“ fest. Die Vorsitzende des Sängerkreises Halle gratulierte dem Chor zu seiner anhaltenden Lebendigkeit und fügte hinzu: „Diese gibt doch Mut zum Weitermachen.“